Was uns dumm macht
Können Sie sich noch konzentrieren? Schaffen Sie es, diesen Artikel zu lesen, ohne auf dem Smartphone zwischendurch eine Nachricht zu texten? Ohne kurz mal Instagram und Tiktok zu checken?
«Sonntagszeitung» vom 5. Juni 2022, Redaktor Michael Marti
Unsere Fähigkeit, uns zu konzentrieren, nimmt dramatisch ab. Und der Verlust der Konzentration ist nicht einfach ein persönliches Problem jedes Einzelnen, sondern eine gesellschaftliche Krise, welche die Funktionsfähigkeit von Öffentlichkeit und Demokratie infrage stellt. Schliesslich: Wir verlieren nicht einfach unsere Konzentrationsfähigkeit. In Tat und Wahrheit wird sie uns gestohlen.
Dieser Artikel verlangt rund 8 Minuten konzentrierter Lesezeit.
Gemäss Johann Hari, Autor des in Englisch erschienenen Bestsellers «Stolen Focus. Why You Can’t Pay Attention» ist der Verlust von Aufmerksamkeit einer der grössten Beutezüge in der Geschichte der Menschheit überhaupt. Jedenfalls legt der von den angelsächsischen Medien hochgelobte Experte eindrückliche Belege vor, die seine These untermauern.
· Durchschnittlich 3 Minuten noch verbringen amerikanische Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ungestört und konzentriert mit dem Erledigen einer Arbeit.
· Unter US-Studierenden beträgt derselbe Wert 65 Sekunden.
· Im Jahr 2017 lasen die Durchschnittsamerikanerin und der Durchschnittsamerikaner noch 17 Minuten pro Tag in einem Buch. Fast 6 Stunden täglich aber nutzten sie ihr Smartphone.
· Rund 2000-mal am Tag (das heisst binnen 16 Stunden) schauen Amerikanerinnen und Amerikaner dabei im Schnitt aufs Smartphone.
· Für eine Studie lösten zwei Gruppen von Studierenden intellektuell anspruchsvolle Aufgaben. Die eine Gruppe legte das Smartphone weg; die andere empfing auf ihren Geräten regelmässig Textnachrichten. Diese zweite Gruppe der Unkonzentrierten schloss beim Test um 20 Prozent schlechter ab als die Gruppe der Fokussierten.
· Ganze 23 Minuten dauert es, so die von Hari zitierten Experten, bis man nach einer Ablenkung wieder vollständig fokussiert ist.
Zugegeben, Hari ist nicht der Erste, der gegen unendliches Scrollen, zwanghaftes Zappen, pausenloses Texten oder manisches Kommentieren anschreibt. Doch der 44-jährige Sachbuchverfasser stellt das Phänomen der gestohlenen Konzentration kompetent in einen gesamtgesellschaftlichen und historischen Zusammenhang.
Multitasking lässt IQ sinken
Der Sohn eines Schweizers und einer Britin legt dabei ein sorgfältig recherchiertes und kurzweilig geschriebenes Buch vor, in dem er vom eigenen Notifications-Overkill, vom eigenen Info-Crash berichtet. Hari flüchtete sich in eine selbst auferlegte dreimonatige Digital-Detox-Kur in einem Strandhaus in Provincetown, Massachusetts. Um sich aus der Knechtschaft seines Smartphones zu befreien, schaffte er sich eine Plastikbox an, in die er jeweils für eine gewisse Zeit das Mobiltelefon wegsperrte. Damit nahm alles seinen Anfang.
Der Verlust an Konzentrationsfähigkeit ist wie die Fettleibigkeit eine gesellschaftliche Epidemie.
Hari führte für sein Buchprojekt Gespräche mit Dutzenden Expertinnen und Experten aus den verschiedensten Fachbereichen. Seine zwölf Thesen, wie uns die Konzentrationskraft geraubt wird, zielen zwar vorrangig auf Digitalisierung, Smartphone, soziale Netzwerke und Notifications-Tsunamis – aber nicht nur. Etwa wenn Hari aufzeigt, wie die moderne Ernährung mit ihrem Übermass an Kohlenhydraten und Zucker die Aufmerksamkeit beeinträchtigt.
Der Zusammenhang zwischen Konzentrationskrise und Ernährungskrise ist ohnehin eng. So diktierte der renommierte US-Psychologe Joel Nigg, der für seine Forschungen zu Aufmerksamkeitsdefiziten und Hyperaktivitätsstörungen bekannt ist, Buchautor Hari in den Notizblock: «Der kollektive Verlust an Konzentrationsfähigkeit ist wie die Fettleibigkeit eine gesellschaftliche Epidemie.»
Social Media ist digitales Fast Food. Der Tiktok-Feed und der Hamburger verschaffen beide eine «instant gratification», eine sofortige Befriedigung, die auf Dauer abhängig machen kann. Ein Fazit von Haris Recherche: Die Social-Media-Industrie und die Techfirmen bewirtschaften unsere Gehirnzellen, die Fast-Food-Branche die Fettzellen. Und beide hacken zur Maximierung ihrer Gewinne das Belohnungssystem unseres Gehirns.
Das Geschäftsmodell der Techfirmen heisst Screentime – die Menschheit zahlt dafür mit Lebenszeit.
Besonders spannend wird das Buch dann, wenn Hari Insider aus dem Silicon Valley befragt und mit ihnen die Strategien und Tricks bespricht, mit denen Softwareprogramme die Userinnen und User ans Smartphone fesseln. Hari rechnet vor, Google kontrolliere mit seinen Apps und seinem Betriebssystem Android rund 50 Prozent aller auf Smartphones versendeten Notifikationen, Nachrichten und Pushes; «Verhaltenskokain» nennt er diese Meldungen. Sicher ist: Wenn wir auf die Smartphone-Screens starren, dann verdienen diese Firmen Geld; wenn wir nicht hinschauen, nicht. Das Geschäftsmodell heisst Screentime. Und die Menschheit bezahlt in diesem Deal mit ihren Daten – und ihrer Lebenszeit.
In Haris Buch kommt der prominente Softwareentwickler Aza Raskin zu Wort, der Mann, der den «Infinite Scroll» etabliert hat: dasjenige Feature, welches auf Instagram und vielen anderen Social-Media-Apps immer wieder neue, algorithmisch ausgewählte Inhalte in den Feed spült. Raskin gibt sich selbstkritisch, bedauert seine Entwicklung – und betont, wie simpel die Techfirmen ihren Usern wieder mehr Raum für Konzentration geben könnten. Facebook etwa könnte die Zahl der Notifications über Standard-Voreinstellungen tief halten, Instagram einen beschränkten Feed mit einer beschränkten Anzahl Posts zeigen. Die Silicon-Valley-Manager müssten es nur wollen.
Immer weniger Schlaf für die Menschen
Als einen weiteren Hauptgrund für den kollektiven Verlust an Konzentration nennt Hari die chronische Übermüdung der Gesellschaft. Die Mehrheit der Menschen schläft zu wenig und schlecht: Das ist Gift für die Fokussierfähigkeit. Rund 40 Prozent der Amerikanerinnen und Amerikaner würden weniger als 7 Stunden pro Nacht schlafen; die Werte für europäische Länder sind ähnlich. Seit 1950 nahm in den Industrieländern die durchschnittliche Schlafenszeit pro Nacht um rund eine Stunde ab; bei Kindern und Jugendlichen sogar um knapp eineinhalb Stunden.
Hari scheut auch vor dramatischen Sätzen nicht zurück. «Wir müssen dringend handeln», schreibt er, «weil es vielleicht so ist wie bei der Klimakrise oder der Fettleibigkeit: Je länger wir warten, desto schwieriger wird es, die individuelle und politische Energie zu mobilisieren, mit der wir die Kräfte bekämpfen, die unsere Konzentration stehlen.»
Regulierungen für die Aufmerksamkeitsvernichter
Dabei ist Hari kein blindwütiger Technikstürmer, der das Rad der Zeit in die Epoche vor dem Internet zurückdrehen will. Doch zwingend sei die Neubesinnung auf die Kraft ungeteilter Aufmerksamkeit nur schon deshalb, weil die Menschheit ihre entscheidenden Probleme, etwa die Klimakrise, nicht lösen könne, solange sie sich mindestens 20 Prozent ihrer Gesamtgeisteskraft klauen lasse.
Es sei Zeit für eine Art Volksaufstand, eine «Attention Rebellion», wie Hari es nennt. Er argumentiert, dass die Gesellschaft ihre Aufmerksamkeitskrise politisch und gesellschaftlich anpacken müsse, sonst drohe ein Jahrhundertproblem. Dazu gehören seiner Meinung nach gesetzliche Vorschriften und Regulierungen für die Aufmerksamkeitsvernichter, für Firmen wie Meta oder Google. Dazu gehörten aber ebenso Massnahmen jedes Einzelnen, etwa genug Schlaf, eine gesunde Ernährung. Und dass jede und jeder sich bewusst Zeit nehmen solle für vertieftes Lesen.
So wie all jene unter Ihnen, die in den letzten rund 8 Minuten diesen Artikel ohne Unterbruch gelesen haben.
Johann Hari: Stolen Focus. Why You Can’t Pay Attention. Bloomsbury, 352 Seiten, ca. 30 Franken. Derzeit nur auf Englisch verfügbar.
«Sonntagszeitung» vom 5. Juni 2022, Redaktor Michael Marti
Unsere Fähigkeit, uns zu konzentrieren, nimmt dramatisch ab. Und der Verlust der Konzentration ist nicht einfach ein persönliches Problem jedes Einzelnen, sondern eine gesellschaftliche Krise, welche die Funktionsfähigkeit von Öffentlichkeit und Demokratie infrage stellt. Schliesslich: Wir verlieren nicht einfach unsere Konzentrationsfähigkeit. In Tat und Wahrheit wird sie uns gestohlen.
Dieser Artikel verlangt rund 8 Minuten konzentrierter Lesezeit.
Gemäss Johann Hari, Autor des in Englisch erschienenen Bestsellers «Stolen Focus. Why You Can’t Pay Attention» ist der Verlust von Aufmerksamkeit einer der grössten Beutezüge in der Geschichte der Menschheit überhaupt. Jedenfalls legt der von den angelsächsischen Medien hochgelobte Experte eindrückliche Belege vor, die seine These untermauern.
· Durchschnittlich 3 Minuten noch verbringen amerikanische Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ungestört und konzentriert mit dem Erledigen einer Arbeit.
· Unter US-Studierenden beträgt derselbe Wert 65 Sekunden.
· Im Jahr 2017 lasen die Durchschnittsamerikanerin und der Durchschnittsamerikaner noch 17 Minuten pro Tag in einem Buch. Fast 6 Stunden täglich aber nutzten sie ihr Smartphone.
· Rund 2000-mal am Tag (das heisst binnen 16 Stunden) schauen Amerikanerinnen und Amerikaner dabei im Schnitt aufs Smartphone.
· Für eine Studie lösten zwei Gruppen von Studierenden intellektuell anspruchsvolle Aufgaben. Die eine Gruppe legte das Smartphone weg; die andere empfing auf ihren Geräten regelmässig Textnachrichten. Diese zweite Gruppe der Unkonzentrierten schloss beim Test um 20 Prozent schlechter ab als die Gruppe der Fokussierten.
· Ganze 23 Minuten dauert es, so die von Hari zitierten Experten, bis man nach einer Ablenkung wieder vollständig fokussiert ist.
Zugegeben, Hari ist nicht der Erste, der gegen unendliches Scrollen, zwanghaftes Zappen, pausenloses Texten oder manisches Kommentieren anschreibt. Doch der 44-jährige Sachbuchverfasser stellt das Phänomen der gestohlenen Konzentration kompetent in einen gesamtgesellschaftlichen und historischen Zusammenhang.
Multitasking lässt IQ sinken
Der Sohn eines Schweizers und einer Britin legt dabei ein sorgfältig recherchiertes und kurzweilig geschriebenes Buch vor, in dem er vom eigenen Notifications-Overkill, vom eigenen Info-Crash berichtet. Hari flüchtete sich in eine selbst auferlegte dreimonatige Digital-Detox-Kur in einem Strandhaus in Provincetown, Massachusetts. Um sich aus der Knechtschaft seines Smartphones zu befreien, schaffte er sich eine Plastikbox an, in die er jeweils für eine gewisse Zeit das Mobiltelefon wegsperrte. Damit nahm alles seinen Anfang.
Der Verlust an Konzentrationsfähigkeit ist wie die Fettleibigkeit eine gesellschaftliche Epidemie.
Hari führte für sein Buchprojekt Gespräche mit Dutzenden Expertinnen und Experten aus den verschiedensten Fachbereichen. Seine zwölf Thesen, wie uns die Konzentrationskraft geraubt wird, zielen zwar vorrangig auf Digitalisierung, Smartphone, soziale Netzwerke und Notifications-Tsunamis – aber nicht nur. Etwa wenn Hari aufzeigt, wie die moderne Ernährung mit ihrem Übermass an Kohlenhydraten und Zucker die Aufmerksamkeit beeinträchtigt.
Der Zusammenhang zwischen Konzentrationskrise und Ernährungskrise ist ohnehin eng. So diktierte der renommierte US-Psychologe Joel Nigg, der für seine Forschungen zu Aufmerksamkeitsdefiziten und Hyperaktivitätsstörungen bekannt ist, Buchautor Hari in den Notizblock: «Der kollektive Verlust an Konzentrationsfähigkeit ist wie die Fettleibigkeit eine gesellschaftliche Epidemie.»
Social Media ist digitales Fast Food. Der Tiktok-Feed und der Hamburger verschaffen beide eine «instant gratification», eine sofortige Befriedigung, die auf Dauer abhängig machen kann. Ein Fazit von Haris Recherche: Die Social-Media-Industrie und die Techfirmen bewirtschaften unsere Gehirnzellen, die Fast-Food-Branche die Fettzellen. Und beide hacken zur Maximierung ihrer Gewinne das Belohnungssystem unseres Gehirns.
Das Geschäftsmodell der Techfirmen heisst Screentime – die Menschheit zahlt dafür mit Lebenszeit.
Besonders spannend wird das Buch dann, wenn Hari Insider aus dem Silicon Valley befragt und mit ihnen die Strategien und Tricks bespricht, mit denen Softwareprogramme die Userinnen und User ans Smartphone fesseln. Hari rechnet vor, Google kontrolliere mit seinen Apps und seinem Betriebssystem Android rund 50 Prozent aller auf Smartphones versendeten Notifikationen, Nachrichten und Pushes; «Verhaltenskokain» nennt er diese Meldungen. Sicher ist: Wenn wir auf die Smartphone-Screens starren, dann verdienen diese Firmen Geld; wenn wir nicht hinschauen, nicht. Das Geschäftsmodell heisst Screentime. Und die Menschheit bezahlt in diesem Deal mit ihren Daten – und ihrer Lebenszeit.
In Haris Buch kommt der prominente Softwareentwickler Aza Raskin zu Wort, der Mann, der den «Infinite Scroll» etabliert hat: dasjenige Feature, welches auf Instagram und vielen anderen Social-Media-Apps immer wieder neue, algorithmisch ausgewählte Inhalte in den Feed spült. Raskin gibt sich selbstkritisch, bedauert seine Entwicklung – und betont, wie simpel die Techfirmen ihren Usern wieder mehr Raum für Konzentration geben könnten. Facebook etwa könnte die Zahl der Notifications über Standard-Voreinstellungen tief halten, Instagram einen beschränkten Feed mit einer beschränkten Anzahl Posts zeigen. Die Silicon-Valley-Manager müssten es nur wollen.
Immer weniger Schlaf für die Menschen
Als einen weiteren Hauptgrund für den kollektiven Verlust an Konzentration nennt Hari die chronische Übermüdung der Gesellschaft. Die Mehrheit der Menschen schläft zu wenig und schlecht: Das ist Gift für die Fokussierfähigkeit. Rund 40 Prozent der Amerikanerinnen und Amerikaner würden weniger als 7 Stunden pro Nacht schlafen; die Werte für europäische Länder sind ähnlich. Seit 1950 nahm in den Industrieländern die durchschnittliche Schlafenszeit pro Nacht um rund eine Stunde ab; bei Kindern und Jugendlichen sogar um knapp eineinhalb Stunden.
Hari scheut auch vor dramatischen Sätzen nicht zurück. «Wir müssen dringend handeln», schreibt er, «weil es vielleicht so ist wie bei der Klimakrise oder der Fettleibigkeit: Je länger wir warten, desto schwieriger wird es, die individuelle und politische Energie zu mobilisieren, mit der wir die Kräfte bekämpfen, die unsere Konzentration stehlen.»
Regulierungen für die Aufmerksamkeitsvernichter
Dabei ist Hari kein blindwütiger Technikstürmer, der das Rad der Zeit in die Epoche vor dem Internet zurückdrehen will. Doch zwingend sei die Neubesinnung auf die Kraft ungeteilter Aufmerksamkeit nur schon deshalb, weil die Menschheit ihre entscheidenden Probleme, etwa die Klimakrise, nicht lösen könne, solange sie sich mindestens 20 Prozent ihrer Gesamtgeisteskraft klauen lasse.
Es sei Zeit für eine Art Volksaufstand, eine «Attention Rebellion», wie Hari es nennt. Er argumentiert, dass die Gesellschaft ihre Aufmerksamkeitskrise politisch und gesellschaftlich anpacken müsse, sonst drohe ein Jahrhundertproblem. Dazu gehören seiner Meinung nach gesetzliche Vorschriften und Regulierungen für die Aufmerksamkeitsvernichter, für Firmen wie Meta oder Google. Dazu gehörten aber ebenso Massnahmen jedes Einzelnen, etwa genug Schlaf, eine gesunde Ernährung. Und dass jede und jeder sich bewusst Zeit nehmen solle für vertieftes Lesen.
So wie all jene unter Ihnen, die in den letzten rund 8 Minuten diesen Artikel ohne Unterbruch gelesen haben.
Johann Hari: Stolen Focus. Why You Can’t Pay Attention. Bloomsbury, 352 Seiten, ca. 30 Franken. Derzeit nur auf Englisch verfügbar.